Störfaktor Megalographie oder die Übertragung des Nicht-Eindeutigen | Ulrike Jagla-Blankenburg, 2005
im Gespräch mit Volker Saul zum Thema Wandmalerei und Zeichnung
UJB: Volker, in den letzten Jahren hast Du ausschließlich an drei Werkkomplexen gearbeitet: Wandobjekte, Zeichnungen und Wandmalerei. Wie kam es zu dem Entschluss, im Raum für Kunst in Aachen ausschließlich Wandmalerei zu präsentieren?
VS: Die Wandmalerei habe ich erst seit zwei Jahren wieder aufgegriffen. In Aachen zeige ich sie unter anderem deshalb, weil es sich innerhalb meiner Ausstellungen der letzten Monate zu einer aktuellen Reihe verdichtet hat. Dies gilt sowohl für Nijmegen („Paraplufabriek Nijmegen“) als auch für meine Präsentationen im Rheinischen LandesMuseum Bonn und in der Galerie Gabriele Rivet in Köln. Hinzu kommt, dass sich Frau Bücher als Leiterin des RAUMs für Kunst und als Kuratorin der Ausstellung ausschließlich für Wandmalerei ausgesprochen hat. Die Raumkonzeption der Aachener Galerie bietet sich auch besonders dafür an. Diese fortlaufende Reihung der einzelnen Wandelemente, vorwiegend an einer einzigen Wandseite, sowie der ausschließliche Lichteinfall demgegenüber – diese kompakte, fast hermetische Konfrontation von Wand und Licht sehe ich insgesamt als große Herausforderung an.
UJB: Aber diese Dominanz einer Wandfront ist ja auch nicht ganz einfach zu bespielen. Impliziert das für Deine Arbeit einen vorwiegend einlastigen Parcours?
VS: Nein. Das Prinzip der Reihung ist hier zwar vorgegeben, aber das macht es auch interessant, zumindest was die einzelnen Wandteile betrifft. Denn diese fortlaufende Raumstruktur gilt es zu brechen. Im Grunde böten sich dazu mehrere Möglichkeiten an: zum einen die Wände zu rhythmisieren, zum anderen einen adäquaten Parcours anzugleichen oder, eben ganz entgegengesetzt, spannungsvolle räumliche Schwerpunkte zu setzen. Für letztere Möglichkeit habe ich mich entschieden. Ich arbeite in Aachen also nicht m i t der Raumstruktur, sondern gegen sie. Als „brechende Kraft“ möchte ich den vorgegebenen Parcours stören. Darüber hinaus ist nicht nur eine Spannung in den Raum zu bringen, sondern auch eine Spannung der einzelnen Wandelemente zueinander zu schaffen. Diese erzeuge ich mit unterschiedlichen Farben und mit wechselnden Umkehrungen von Linie und Farbfeld, aber auch mit gänzlich frei verbleibenden Wandsegmenten. Dabei geht es mir um die Akzentuierung von Schwerpunkten im jeweils hinteren und vorderen Raumbereich. Das heißt konkret: im vorderen Bereich schaffe ich ein Gegenüber von farbigen Linien auf weißem Grund, im hinteren Bereich dagegen setze ich eine Zweierkombination mit weißen Linien auf farbigem Grund. Und diese nehmen schließlich den Dialog zur letzten Wand auf, die mit farbiger Linie auf weißem Grund abschließt. Damit wirkt auf den Betrachter ein komplexes Beziehungsgeflecht von Linie zu Fläche ein, von Farbe zu „Nicht-Farbe“ und schließlich von Paaren und Einzelstücken.
UJB: Nehmen Fläche und Linie eine gleichbedeutende Rolle in Deiner Malerei ein?
VS: Nein. Ausschließlich die Linie manifestiert sich in meiner Arbeit. Die Farbe verhält sich zur Farbigkeit des Materials im Raum, da muss ich mich lediglich nach den Gegebenheiten richten, also nach der Farbe des Holzbodens oder der Fensterrahmen. Daher ergeben sich auch die vielen Farbproben vor Ort. So wird die Farbe vom Raum bestimmt, die Linie aber bin einzig und alleine ich. Übrigens verhält sich das in meinen Zeichnungen anders, dort ist die Farbigkeit der Linie abhängig von der Linienform.
UJB: Bleiben wir bei der Form. Was „zeichnet“ denn die Linie hier an die Wände?
VS: Zum einen geht es um den Themenkomplex Kopf, zum Anderen um seine Ambivalenz in der Monumentalität. Zum ersten Mal habe ich speziell für die Aachener Situation eine große Zeichnungsserie von Köpfen entwickelt. Einige von ihnen habe ich vergrößert und Schablonen davon angefertigt. So übertrage ich die Zeichnung ins Monumentale. Überdeutlich und überlebensgroß beherrschen die Köpfe dann den Raum. Sie überragen zwar den Betrachter, werden aber dennoch nicht greifbar – im Gegenteil, sie ziehen sich hinter der Materialität ihrer perfekten Erscheinung zurück. Im Grunde greife ich die Problematik von Heldendenkmälern, von monumentalen Idealbildern oder antiken Megalographien auf, die sich ebenfalls in ihrer Wirkung unumgänglich zur Speicherung aufdrängen, einzig und allein auf Grund ihrer Größe. Dieses bildliche Phänomen einer intendierten Unumstößlichkeit, ich meine die Bebilderung von Idolen, auch Verherrlichungen oder Vergötterungen, ... dies interessiert mich schon seit einiger Zeit. Monumentalbilder tragen stets die Qualität der Ambivalenz in sich und stehen damit im Kontrast zu ihrem Absolutheitsanspruch. In der Konfrontation mit dem monumental Heldenhaften und Großen wird der Mensch klein – ich versuche das aufzugreifen und gleichzeitig zu konterkarieren. Mir geht es vor allem um eine relative und subjektive Lesbarkeit im Dargestellten.
UJB: Wie ist das möglich, wenn Du in Deinen Wandarbeiten doch selbst „monumentalisierst“?
VS: Indem ich das Subjektive, das Fragile und Nicht-Eindeutige monumentalisiere und eben nicht die allgemein gültige Idee eines Idols. Sicher, auch ich erziele eine unmittelbare und körperliche Konfrontation durch Größe. Und das ist im Grunde auch die neue Ebene, die ich ausgehend von meinen Zeichnungen in die Wandmalerei eingebracht habe. Ich arbeite da aber auf zwei Ebenen. Formal geht es um Absolutheitsanspruch, inhaltlich aber in die entgegengesetzte Richtung, indem ich das Subjektiv-Besetzte, das Nicht-Greifbare und damit auch jene „Nicht-Größe“ versuche zu vergrößern. Diese Antinomie in der Monumentalisierung des Nicht-Absoluten ist der eigentliche Reibungspunkt. Man braucht ja die Wände nur auf sich wirken zu lassen, und ich denke, an diesen Kopf-Gestalten wird ein, im wahrsten Sinne des Wortes, „surrealer Effekt“ evident. Einerseits entwickeln die Köpfe eine enorme Spannung zum Raum, andererseits eine fast körperliche Konfrontation mit dem Betrachter. Hinzu kommt, dass die Linien nicht am Boden ansetzen, sondern erst knapp darüber und somit das Ganze losgelöst erscheint.
UJB: Du meinst, „Kopfgeburten“ ohne Bodenkontakt?
VS: So könnte man es bezeichnen. Und dabei ist mir der Auftritt der offene Linie eben sehr wichtig.
UJB: Für die Wandarbeiten arbeitest Du nach Vorlagen aus dem sehr komplexen Repertoire Deiner Zeichnungen. Diese sind nun, ganz im Gegensatz zur Wandmalerei, direkt und unmittelbar entstanden. Wie steht es dabei mit dem Aspekt „Écriture automatique“? Ist der Begriff auf Deine Zeichnungen anwendbar?
VS: Das war früher bei den abstrakteren, freieren Formen so und spielte eine Rolle bei meinen Zeichnungen auf Leinwand. Wie schon gesagt, das Intuitive ist immer da. Aber jetzt umkreist es ein ganz bestimmtes Formenrepertoire, das über die Jahre entstanden ist.
UJB: Wie hast Du dieses „physiognomische Repertoire“ über die Jahre entwickelt und welche Faktoren spielen dabei für Dich eine Rolle?
VS: Es ist das Unbekannte und Verborgene in der Erscheinung, das mich interessiert, ... vor allem aber das Unstabile und sich stetig Wandelnde, ... eben das, was kippt. In der Formfindung sind das aber meist unbewusste Entscheidungen. Langsam richtet sich eine Bewegung nach der anderen aus und Formverläufe beginnen zu korrespondieren, ergeben Strömungen und Spannungen, ... und irgendwann setzt der Punkt ein, wo ich dann ein Thema mehr und mehr einzugrenzen versuche. Im Grunde versuche ich, Zufälligkeit zu fixieren – so zeichne ich den Moment, der zwischen den Interpretationen liegt. Diese Nicht-Eindeutigkeit bietet die geeignete Projektionsfläche. Die Linie generiert dabei zu einem großen Teil ein Formengefüge, das ich mir vorher nicht ausgedacht habe oder gezielt herbeiführen wollte.
UJB: In dem Moment, wo Du in der Zeichnung die Linie ziehst, bist Du mit ihr verbunden, hast sozusagen keinen Abstand von ihr.
VS: Genau, während der Arbeit an der Linie gibt es einzig und allein diesen unmittelbaren Moment ... Denken, Wollen und Kalkül sind da weitgehend ausgeschaltet ... und den Abstand dazu gewinne ich erst, wenn alles fertig ist, ... manchmal sogar nicht einmal dann, denn dazwischen steht noch der Moment der Kontrolle und des Abwägens, das heißt, meine Entscheidung, ob ich das Ganze überhaupt so lassen will.
UJB: Beim Zeichnen ziehst Du die Linie konzentriert, das heißt, der Arbeitsvorgang erfolgt stets in aller Langsamkeit. Du sagst, vieles spiele sich dabei unbewusst ab. Bist Du überrascht vom Endergebnis?
VS: Ja, auf jeden Fall, das ist für mich immer ein besonderer Moment ... das Unvorhergesehene geschaffen zu haben, das, was mir selber fremd und neu ist. Meist entsteht aber etwas zu Offensichtliches, zu Dramatisches oder zu Lapidares – das sondiere ich dann aus.
UJB: Auf dem Papier zeichnest Du mit der Tube. Warum?
VS: Die Handhabung dieser Technik verhindert, dass es expressiv wird. Die Bewegung muss sich langsam vollziehen, und das ist gut so. Wenn ich zu schnell arbeite, kommt der Fluss der Ölfarbe nicht nach und die Zeichnung bricht auf. Arbeite ich hingegen zu langsam, verdickt sich die Farbschicht und die Linie verliert an Stringenz. Das Arbeitsmittel bestimmt also mein Tempo. Große Emotionen lassen sich da gar nicht übertragen. Durch das Gleiten der Tube auf dem dünnen Ölfilm entwickeln sich dann noch am Besten runde, organische Formen. So gesehen richtet sich die syntaktische Struktur meiner Arbeit nach einem fest vorgegebenen, arbeitstechnischen Rahmen, den das Zeichnen aus der Tube bestimmt. Das, was sich erzählt, ist einzig die immer gleich bleibende und farbig stark formulierte Linie.
UJB: Werktechnisch betrachtet, hast Du also genau jene Mittel gewählt, die Dich permanent an Distanz und Kontrolle gemahnen. Das heißt, Du hast nicht nur die Materialträger, sondern auch das Tempo und die Bewegung Deiner Produktion „fest im Griff“.
VS: Eben nicht. Der Ausschuss bei den Zeichnungen liegt immerhin bei achtzig bis neunzig Prozent. Eher selten treffen alle Komponenten, von denen wir gesprochen haben, so zueinander, oder anders gesagt, i c h bin nicht immer in der Lage sie harmonisch aufeinander abzustimmen. Ich muss es genau aus-tarieren, das heißt, einerseits unverkrampft loslassen beim Ziehen der Linie, andererseits ihre materiellen Konditionen im Auge behalten. Das ist die Herausforderung dabei. Wenn nur eine dieser beiden Ebenen die Überhand gewinnt, kann ich’s schon vergessen. Und in der Monumentalität verstärkt sich dieser Spagat noch um ein Vielfaches, denn auch die Übertragungen an die Wände sind ein sensibler Prozess. Da wiederum richtet sich die Präzision nach Beschaffenheit und Verhalten von Wand und Farbe – und das ist eben jedes Mal äußerst verschieden. Wenn die Schablonen im Entwurf funktioniert haben, heißt das noch lange nicht, dass hinsichtlich Raumbeschaffenheit, Licht oder anderen indifferenten Faktoren, auch Farbverhalten und Oberflächentextur mitspielen.
UJB: So kann man behaupten, dass dieser schmale Grad zwischen objektiv-sachlicher Distanz und dem Zulassen von subjektiv-formalen Entscheidungen die Seele Deiner Linienformen zeichnet.
VS: Nun gut, sagen wir so, es bezeichnet den Idealfall. Der Arbeitsprozess verhält sich ja nicht in dieser glatten Ausschließlichkeit. Im Zeichnungsentwurf bewerte ich aber das Scheitern und die vielen fehlerhaften Entscheidungen durchaus als produktiv, da auch sie eine wichtige diskursive Bewegung darstellen, die indirekt im Endergebnis mitenthalten ist.