Shapes – Work in Progress | Leopold-Hoesch-Museum, Düren, 14.6. – 22.11.2015 | Sabine Elsa Müller im Kunstforum International, Band 236, 2015, Ausstellungen: Düren, S. 278
Vor dem Leopold-Hoesch-Museum knattert eine einsame Fahne in Blau und Gelb. Das 1905 eingeweihte Museum mit seiner ornamentreichen, plastisch geschwungenen Fassade ist ein imposantes Beispiel historisierender Architektur. Inmitten der Fünfzigerjahre-Bebauung des im Krieg stark zerstörten Düren wirkt es wie herausgefallen aus der Zeit. Offenbar hat sich der 1955 in Düren geborene Volker Saul mit dieser Fahne seinen eigenen Verschwindezauber gegen zu hoch aufgetürmte Schwellen geschaffen, die den Zugang zu diesem Musentempel immer schon erschwerten. Sie setzt dem respekteinflößenden Baukörper eine Prise Leichtigkeit entgegen und stellt eine Verbindung her zum modernen städtischen Leben mit seinen Zeichencodes und Signalfarben.
Im Innern des Gebäudes erwarten den Besucher das üppig ausgestattete, zweiläufige Treppenhaus und jede Menge weiterer überraschender Raumerlebnisse. Seit das Museum mit einem modernen Anbau erweitert wurde, wirkt der Wechsel von der labyrinthischen Raumverzahnung des historischen Trakts in die kühle kubische Weitläufigkeit des Anbaus im Allgemeinen etwas abrupt. Volker Sauls Ausstellung „Shapes – Work in Progress“ nutzt die Großzügigkeit der neuen Räume, sorgt aber mit geschickt platzierten Raumteilern für einen weichen Übergang. Seine Raumkonzeption lässt ein kojenartiges Entree in eine langgestreckte, an ihrem Ende sich verbreiternde und mit Tageslicht geflutete Raumflucht münden. So präsentiert sich die Abfolge der Werke aus den letzten zehn Jahren allein aus ihrer Inszenierung heraus als stringente Entwicklung aus konzentrierter Verdichtung hin zu einer Öffnung mit fließenden Übergängen zu immer größerer Mannigfaltigkeit. Wie in einem Wachstumsprozess entfaltet sich die Einzelform in vielen Verzweigungen. In letzter Konsequenz führt dieser Gedanke sogar zur Definition der gesamten Ausstellung als „work in progress“: Während der sechsmonatigen Laufzeit werden sich die Zeichnungen als bewegte Silhouetten und weiter als Wandmalerei niederschlagen. Der Drang zur Gestaltwandlung duldet keinen Stillstand.
Am Ausgangspunkt jeder dieser Arbeiten steht eine zeichnerische Geste. 14 Zeichnungen mit Tuschemarker auf DIN A4-Karton aus den Jahren 2006-2014 geben eine kleine Auswahl aus einem reichen Fundus, den Volker Saul in einem intensiven Arbeitsprozess in Zeiten klausurartiger Zurückgezogenheit entwickelt. Aus dem tiefen Bodensatz einer aus Intuition, Erinnerung, Traum und Vision gesättigten „Ursuppe“ kommen hier wundersame Formen zu Tage, dinghaft, körperlich und narrativ, ohne etwas Konkretes zu bezeichnen. Mal sind es isoliert auf dem Blatt stehende Einzelformen, mal lockere Verbände, die sich zu komplexen Szenarien mit ausgesprochen räumlicher Wirkung verdichten. Recht häufig taucht so etwas wie eine Horizontlinie auf, die Innenräume oder Landschaftliches evoziert. Die an den Comic angelehnte Stilistik der geschlossenen, wuchernden Umrisslinie erweckt den Eindruck plastischer Bewegtheit, wobei die inhaltliche Anmutung zwischen Körperlich-Organischem und Technoidem manchmal an futuristische Bildergeschichten denken lässt. Manche Details erinnern an anthropomorphe Apparaturen oder an Prothesen.
Volker Sauls zeichnerische Linie ist aus der Schrift heraus entstanden, mit der er sich in seinen vorausgegangenen Arbeiten stark auseinandergesetzt hat. Immer noch eignet diesen Formen zwischen „Gestänge, Gewächse, Gedärme, Getier“ (Martin Seidel) unleugbar etwas Erzählerisches an. Ihr wesentliches Thema aber ist die schöpferische Kraft der Imagination. Bei ihrer Betrachtung weicht die Frage nach dem, was das darstellen könnte, zurück vor der alten Erkenntnis, dass der Imagination eine Form alles sein kann – im nächsten Moment wird aus einer simplen Wolke ein Drache und ein paar Verwandlungsschritte weiter ein Baum oder Haus, einschließlich vielfältigster Zwischenformen. Diese unablässig sich wandelnde Welt, in der alles mit allem zusammenhängt, aber niemals nur es selbst sein kann, kann je nach Blickwinkel beunruhigend, faszinierend oder auch belustigend wirken. Sauls „Zufallsformen“ spielen mit solchen psychologischen Ambivalenzen. Er nutzt den halbautomatischen Zeichnungsprozess zur Generierung eines visuell unbelasteten und überraschenden Vokabulars.
Aus einzelnen Erzählsträngen bildet er wiederum typologische Reihen, die in anderen Materialien und Techniken weiterentwickelt werden. Als Papier- oder Aluminiumschnitt befreit sich die Zeichnung aus der Bindung an die Fläche. Aus den Linien werden Konturen, die auf Schattenrisse reduzierte und in ihrem harten Positiv-Negativ-Kontrast ganz der Zweidimensionalität verpflichtete Objekte definieren. Sie suggerieren eine sehr nah herangerückte, aber dennoch verschlossene Räumlichkeit wie beim Blick durch das Schlüsselloch oder bei fast völliger Dunkelheit, in der nur noch Schemen erkennbar sind. Werden sie mit einem kleinen Abstand auf der Wand angebracht, sorgen die Schattenwirkungen für zusätzliche Formveränderung. Ihre buntstiftfarben-flächige Chromatik verschärft den Grad der Abstraktion, verpasst ihnen aber gleichzeitig etwas Charakteristisches und Spezifisches. Bei den Wandmalereien entwickelt die großflächige, kräftig-suggestive Farbigkeit mit ihren starken Kontrasten einen Sog, der den energetischen Fluss der Linie in die räumliche Dimension erweitert.
Mit „Abgefahren“, einem einkanaligen HD-Video von 06:13 min Länge, stellt Saul eine seiner jüngst entstehenden filmischen Studien vor, in denen sich diese holzschnitthaften Bildwelten tatsächlich bewegen, indem sie sich sehr langsam überkreuzen und damit wieder neuen Metamorphosen unterliegen. Eine andere Möglichkeit, Beweglichkeit als ewige Formquelle sichtbar zu machen, besteht in der Deformation. In der 28-teiligen Serie „Headhunters“, Acryl auf geschnittenem Papier, dehnen sich Köpfe zur Groteske, bilden Ausstülpungen und ziehen sich wieder zusammen. Erst die ausgesparten Augenlöcher machen aus diesen eigenartigen Flecken tatsächlich so etwas wie Köpfe oder Masken. Schließlich lässt sich kaum zuverlässig sagen, ob sie auch isoliert für sich als Köpfe erkannt würden, oder doch erst durch ihre Zugehörigkeit zu einem bestimmten Schema.
In Zusammenarbeit mit dem amerikanischen Jazzpianisten Richie Beirach gelang es Volker Saul, die zeichnerische Geste in eine weitere, die musikalische Dimension zu übertragen. Beirachs Improvisationen zu 14 seiner Zeichnungen legen eine leise, elegische Stimmung über die Ausstellung. Wie unsichtbare Verbindungslinien schweben die Töne zwischen den Werken im Raum.
Sabine Elsa Müller im Kunstforum International, Band 236, 2015, Ausstellungen: Düren, S. 278