Stories, zweifach erzählt | Dan Devening zu den Aluminiumschnitten von Volker Saul
Ich liebe gute Geschichten – Bücher, die man bis zur letzten Seite nicht aus der Hand legt, mit Spannung und unerwarteten Wendungen. Geschichten mit ein oder vielleicht zwei starken Charakteren. Abenteuer sind immer aufregend, und wenn die Handlung an einem wirklich exotischen oder fremden Ort spielt, dann ist das noch besser. Außerdem mag ich es, wenn der Schauplatz die Szene mitbestimmt. Denken wir nur an Western, an diese endlos weiten Horizonte, die unvermeidlich zu langen Trecks auf dem Pferderücken und Begegnungen mit furchteinflößenden Schurken führen. Die Art, wie eine gute Geschichte uns füllt und erfüllt kommt mir in den Sinn, wenn ich an Volker Sauls neue Aluminiumschnitte denke. Diese jüngste Werkgruppe veranschaulicht in einzigartiger Weise die komplexe Machart aufregender Erzählungen und wie diese sich vor dem Leser entfalten – oder, in diesem Fall, vor dem Betrachter.
Ebenso wie gutes allegorisches Theater ist jedes abstrakte Werk von Volker Saul eingebettet in einen sehr konkreten – aber überaus mysteriösen – erzählerischen Zusammenhang, innerhalb dessen die Charaktere auftauchen und das Drama seinen Lauf nimmt. Und wie jede gute Geschichte, so enthüllen auch Volker Sauls neue Arbeiten am Ende vieles, aber nie die Gesamtheit dessen, was sie wirklich bedeuten. Unter der Oberfläche lauern verborgene Schichten, und der Betrachter ist eingeladen, sie genüsslich aufzudecken. p />Wer oder was also bewegt sich durch Volker Saul Geschichten? In seinem Werk begegnet man einer ganz eigenen Anordnung von Figuren, Kreaturen oder „Darstellern“, von denen viele zuvor in komplexen Zeichnungen auf Papier entworfen worden sind. Es sind Wirbeltiere oder amöbenhafte Lebewesen, eine Art Säugetiere, jedoch mit der Fähigkeit, sich völlig frei in dem gesetzten Ausschnitt zu bewegen. Sie sind in gleicher Weise bezaubernd wie unterschwellig bedrohlich. Sie sind beweglich und schlängeln sich um und durch einander; sie wachsen aus dem Boden und sind gleichzeitig befreit von ihm. Die Landschaft, die diese Wesen umgibt – und es scheint tatsächlich eine Art Gelände zu geben – zeigt auch Blattwerk und eine entfernt vertraut wirkende Vegetation (meistens eine tropische). Dieses unbekannte Terrain ist oft sehr dicht und bietet Volker Sauls Wesen eine Vielzahl von Möglichkeiten sich zu maskieren oder zu verstecken. Die Kreaturen scheinen der Schwerkraft zu unterliegen, und so bietet der Horizont eine angenehme Orientierung, die dem Betrachter bei der Entscheidung hilft, wo und wie er sich in jeder Szene selber positionieren möchte. Diese Umgebung ist unserer eigenen gerade ähnlich genug, um uns anzuziehen, und doch fremd genug, um uns zu verwundern – oder auf der Hut zu sein.
Wie in jeder gut erfundenen Geschichte ist die Perspektive, aus der wir die Erzählung lesen, entscheidend für die sich entwickelnde Handlung. Sauls sorgfältig komponierte „Vignetten“ sind von einem Rahmen begrenzt, um die formale Struktur und erzählerische Spannung jeder Szene zu verdichten. Der Raum in seinen Bildern ist oft beängstigend eng, die Wesen haben nur wenig Platz um sich zu bewegen, und die unvermeidlichen Zusammenstöße machen die Party umso lebendiger. Wir betrachten die Szene durch ein fensterähnliches Portal, welches jede Form definiert und die Spannung erhöht. Dieses Fenster fängt jedoch nur ein Fragment der Szene ein; die Handlung jenseits seiner Begrenzung liegt erschreckend – oder auch verlockend – weit außer Reichweite. Der Rahmen führt uns auch tiefer hinein in einen von starkem Licht erfüllten Raum, der die Charaktere im Vordergrund zu Silhouetten reduziert. So bleiben alle Details verborgen, die uns nähere Auskunft geben könnten über ihre physischen Körper. Hierin liegt ein entscheidendes Element von Sauls visueller Meisterschaft: Die Kanten der Formen in jedem „Bild“ sind so klar und scharf, dass sie solide und physisch wirken, aber ihre Oberflächen entbehren jeder Differenzierung; sie werfen uns auf uns selbst zurück, ohne jene entscheidenden Hinweise, die uns in vertrauter Sicherheit wiegen könnten. Es sind wohl Körper, jedoch Körper, die nur als Schatten existieren.
Volker Sauls neue Arbeiten sind überzeugend vollständig; wenn wir vor diesen betörenden Bildern stehen, brauchen wir nichts anderes. Gleichzeitig scheint so, dass doch „etwas“ fehlt, und Saul hat diese Auslassungen in seiner neuesten Entwicklung im Atelier reflektiert. Bei der Entstehung seiner Arbeiten wird das Motiv aus einer Aluminiumplatte herausgeschnitten. Die so entstehenden Negativräume werden zwar nicht mit Material gefüllt, sind aber voll von Andeutungen. Die Abwesenheit dieser Ausschnitte bedeutet, dass wir eingeladen sind, unsere eigenen Vorstellungen darüber hineinzudenken, wie die Szene vervollständigt und die Geschichte noch komplexer gemacht werden könnte.
Kürzlich hat Saul begonnen, das Material der „negativen“ Ausschnitte zu neuen und höchst interessanten Dialogen zu komponieren. Indem er diese Objekte farblich ähnlich gestaltet wie die anderen Werke, schafft er aus diesen dislozierten Fragmenten neue Installationen und gelegentliche Paarungen. Obwohl sie die „abwesenden“ Räume der Originalwerke darstellen, sind sie nun materiell anwesend und haben die Fähigkeit, zusammen mit Anderen neue komplexe Geschichten zu erzählen. Diese Wendung ist überraschend, aber absolut folgerichtig, wenn wir die Art von Fiktion berücksichtigen, die Saul schreibt. Im Vordergrund der Werke herrschen Komposition, Harmonie und Ausgeglichenheit, wohingegen diese „heimatlosen“ Formen sich frei bewegen, ohne erzählerische Beschränkung. Sie sind zu gesetzlosen Ausreißern geworden, Outlaws, die sich in neuen Ansiedlungen beheimaten und ihre eigenen, dissonanten Geschichten schreiben. Nicht länger an spezifische geordnete Abläufe gebunden, finden sie sich mit anderen Fremden zusammen um Geschichten zu erzählen, die noch mysteriöser sind als die ihrer ursprünglichen Gegenstücke.
Die Dichotomie zwischen dem Sichtbaren und dem Abwesenden in Volker Sauls neuen Arbeiten eröffnet nachdrücklich in neue Dimensionen. Während er einerseits runde Geschichten mit Anfang, Höhepunkt und Ende schreibt, präsentiert er andererseits radikale visuelle Poesie mit wenig Ordnung oder Hierarchie. Während sie nur als Fragmente in allen Größen, Formen und Farben existieren, schweben diese neuen Objekte an ihrem Platz, mit unsicher geschmiedeten Assoziationen. Den Sinn für Harmonie, den wir aus den Herkunftswerken dieser Stücke kennen, werden wir hier nicht finden, stattdessen vertrauen sie auf etwas Offenes, Luftiges und Schrankenloses in ihrer Sinngebung. Die Arbeiten schwingen in der Architektur, in der sie installiert sind, und akzentuieren den Raum mit neuen unruhigen Rhythmen. Hier erleben wir behutsam zusammengefügte Scherben auf dem Weg zu einer neuen strukturellen Logik, einer anderen Art von Geschichte, mit überraschend neuem Wortschatz.
Am Ende bleibt die Frage: „Was sind das für Geschichten, die Volker Saul erzählt?“ Ich glaube, es sind Fabeln, dunkle Märchen, die tief verwurzelt sind in einer Tradition von Allegorien und gemeinsamer Vergangenheit. Sie entstehen aus Bildern des Unbewussten. Geschichten, zusammengesetzt aus entfernt Vertrautem, schwer Fassbarem und Phantastischem – Geheimnisse der besten Art. Volker Saus neue Arbeiten sind Einladungen eine Erfahrung zu teilen; als Erzähler dieser Geschichten ist es seine unverkennbare Stimme, die hier echte Humanität zur Sprache bringt.
Dan Devening, Chicago, 2013-08-29 Übersetzung: Maja Weidemüller