Taxonomische Mirabilien – Zum Zeichenvokabular von Volker Saul | Harald Uhr, 2011
Auch jedem noch so abstrakten Bildgefüge kann, ja muss der arglose Betrachter ein „Das erinnert mich an…“ sich selbst, dem Bild oder seiner jeweiligen Begleitung zuraunen. Dies kann ihm niemand verwehren. Erst recht wird man ihm die Legitimation zu solchen Äußerungen nicht absprechen können. Denn in der Tat, nur schwerlich wird sich auf diesem Erdenrund etwas finden lassen, was nicht in einen wie auch immer gearteten Bezug zu irgendetwas anderem zu bringen wäre.
Für die Erzeugnisse der Kunst gilt dies sogar noch in gesteigertem Maße, schließlich sucht sie selbst beständig nach Referenzen, die außerhalb ihres eigenen Horizontes angesiedelt sind, ebenso wie nach solchen, die im eigenen Metier vorgefunden werden. Auch kommt der Kunst der Umstand zu Gute, dass wir in einer Zeit leben, die schier nach Bildern giert, die keine Mühen scheut, noch die entferntesten Dinge oder Sachverhalte dem Zugriff der Sichtbarkeit auszusetzen. Sonden werden in die unermessliche Weite des Alls geschickt, um uns körnige oder gestochen scharfe Bilder von was auch immer zu liefern. Kleinste Partikel, Mikroben und Zellkerne werden so lange vergrößert, bis dass das Auge etwas auszumachen glaubt, was es verwerten kann oder wenigstens bei nächster Gelegenheit wieder zu erkennen meint. Wir horten visuelle Datenbanken, selbst auf die Gefahr hin, dass wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch völlig außerstande sind, die angehäuften oder erzeugten Bilder überhaupt adäquat zu deuten. Mitunter will es scheinen, als sammelten wir unentwegt Antworten in Bildform, ohne jedoch die entsprechenden Fragen bereits hinreichend formulieren zu können. Auf diesem Terrain weiß sich die Kunst aber seit jeher in vertrautem Gelände, speist sie sich doch über weite Strecken aus der Deutungsoffenheit dessen, was einem vor die Augen gebracht wird.
Gehen wir also getrost davon aus, dass sich auch bei der Betrachtung von Volker Sauls Zeichnungen und Bildern Assoziationen einstellen können, die mitunter recht bizarr oder gar monströs ausfallen, aber dennoch ein gewisses Quantum an Plausibilität oder Anschlussfähigkeit für sich reklamieren dürfen. Auf den vertrauten Fundus der uns auf Augenhöhe alltäglich umgebenen Welt der Dinge können wir dabei eher nicht zurückgreifen, wohl aber auf Segmente der angehäuften Bildarchive. Beim Abgleich stoßen wir dabei vielleicht auf Illustrationen aus wissenschaftlichen Lehrbüchern. Schautafeln mit Einsichten in das Körperinnere könnten sich anbieten. Darstellungen von Nervenbahnen, Ganglien oder Synapsen dürfen zur vergleichenden Betrachtung herangezogen werden. In jedem Fall wirken Sauls Zeichnungen organisch, gleichzeitig aber auch schematisch, was uns aus dem Biologieunterricht durchaus vertraut daher kommt.
An dieser Stelle drängt sich der Ausstellungstitel eindringlich ins Bewusstsein: „K.O.F.G.A.“. Bei dieser seltsam anmutenden Buchstabenfolge handelt es sich um nichts Geringeres als eine Gedankenstütze zur Taxonomie, der wissenschaftlichen Gliederung der Organismen nach international festgelegten Nomenklaturregeln. Aufgelöst lesen sich die Abkürzungen als ‚Klasse, Ordnung, Familie, Gattung, Art’ und suggerieren eine lückenlose Bestimmbarkeit aller Lebewesen. In der täglichen Praxis jedoch muss dies selbst bei den geübten Fachleuten, geschweige denn im Schulunterricht keineswegs zu den gewünschten eindeutigen Ergebnissen führen. Ein gewisser Spielraum darf selbst in der knochentrockenen Wissenschaft gewahrt bleiben. Für die weit weniger trockene Kunst sind diese Spielräume nachgerade unabdingbar. Wir können dem Zeichenvokabular Volker Sauls demnach eine ferne mimetische Funktion nicht gänzlich absprechen, zugleich jedoch dient es als Spielmaterial, aus dem sich immer wieder andere Konstellationen ergeben. Nicht gänzlich inhalt- oder weltlos, sind Sauls Bildzeichen Farb- und Formsignale ohne Botschaften. Sie flottieren frei, suchen die Balance und nicht die Dominanz. Sie sind nachbarschaftsfähig, verschwistert und lassen sich an der Wand gruppieren. Sie setzen sich aus einer vielfältigen Kombination modularer Strukturen zusammen und streben je für sich visuell stabile Zustände an. Erzählt wird vom Kontinuum der Bilder, von Reihen und Clustern. Ihr Gefüge entstammt einem Arsenal, das eine unüberschaubare Anzahl von Elementarformulierungen umfasst.
Aus der Handzeichnung gehen auch die Cut Outs und die größeren Bilder – auf Papier, Kunststoffplane oder Wandflächen – hervor. In digitaler Bearbeitung entstehen flächige, an Signets erinnernde Formen, teilweise auf farbigem Fond. Von zarten Tönen bis zu Signalfarben reicht die Palette. Der Eindruck einer emblematischen und heraldischen Anverwandlung stellt sich unversehens ein. Auf rotem Untergrund etwa erinnern die Formen an Warnsignale. Wovor aber könnte hier gewarnt werden? Ähnlich wie bei den Zeichnungen stellen sich Assoziationen an organische, wuchernde Gebilde ein. Sollten sich an dieser Stelle erneut die Taxonomen ans Werk machen, kämen möglicherweise die abenteuerlichsten Bezeichnungen diverser Kleinstlebewesen oder Zellakkumulationen auf die Bestimmungslisten. Am Ende könnte dann vielleicht Bazillenalarm ausgerufen werden oder Milben, Wanzen und Mikroben, Parasiten und Bakterien, Erreger jedweder Art gäben uns ihre Silhouette in millionenfacher Vergrößerung preis. Sicherlich schießen die Vorstellungen ein wenig ins Kraut, aber mulmig kann einem schon werden, bei der Betrachtung dieser hybriden Formgebilde. Waren es in früheren Zeiten die mit größtem Aufwand illustrierten Tafelwerke als Vorboten der Aufklärung, mit ihren Mirabilien und Merkwürdigkeiten aus entlegenen Ländern, die die Phantasie der Betrachter auf Reisen schickten, so sind es heute eher die 3D-Animationen für die großen Hollywoodschocker, die unseren augenscheinlichen Bedarf an bizarren Gruseligkeiten zu befriedigen vermögen. Gerne wird auch dort als Nervenkitzel ins Überdimensionierte übersteigert, was mit bloßem Auge für den Menschen unsichtbar bleibt. Ein prämorphes Geschiebe und Gedränge tritt unvermittelt als Körperfresser in Erscheinung, strebt nach der Weltherrschaft und stört den Seelenfrieden des unbedarften Vorstadtbewohners – der mit diesen Hausgenossen eigentlich ganz gut leben kann, solange sie in ihrer ihnen von der Schöpfung zugedachten Größenordnung verbleiben und sich damit dem Gesichtskreis des Menschen weitgehend entziehen. Man muss diesen morbiden Assoziationsausbuchtungen nicht in ihre letzten Verästelungen folgen. Weniger nervös verschreckte Zeitgenossen fühlen sich vielleicht an friedliche Wildkräuter der Tiroler Alpenregion erinnert und schmecken beim Anblick bereits den Honig, den fleißige Bienen aus deren Nektar bereiten werden. So oder so – in jedem Fall dürfen wir uns eines Augenzwinkerns Volker Sauls sicher sein, nimmt er doch einen solchen emotionalen Überschwang bei den Betrachtern seiner Arbeiten nur zu gern in Kauf. Ihn interessiert gerade die Diskrepanz zwischen der nüchtern-formalen Aneinanderreihung nahezu gleichförmiger Zeichen- und Linienschwünge und den komplexen emotionalen Gestimmtheiten, die diese dann, zu Formgebilden ausgewachsen, auszulösen vermögen.
Die Kunst Volker Sauls verzichtet auf eine konkrete Repräsentation zugunsten der Präsentation detaillierter Elemente und Momente. „Gerade durch ihre Zerstreuung kommt die Kunst jedoch dem Sein als Vermögen des Möglichen gleich, oder der Sprache als Vermögen der Spiele.“ (Lyotard) Die Kunst als Experiment stiftet immer neue Horizonte, sie fungiert als permanenter Möglichkeitssinn. Durch die Kategorie der Möglichkeit jedoch treibt die Kunst immer auch wieder über sich selbst hinaus. Die Gegenständlichkeit eines Kunstwerks, das den Betrachter sinnlich affiziert, wird erweitert um eine Ahnung des Unbedingten, die das Individuum in seiner festgefügten Erlebniswelt zu erschüttern vermag. Die Malerei Volker Sauls systematisiert die Gegenständlichkeit als den Ort misslungener Realität. Die Kunstwerke werden zu Reflexionsräumen, die die Pluralität der Deutungshorizonte in ihrer Offenheit belassen. Sie akzentuieren die Disparatheit der scheinbaren Wirklichkeiten. Radikal in der Haltung und konsequent in der Ausführung bei der Befragung des Bildbegriffs, weiß der Künstler dennoch um die vielfach verschlungenen Bezüge zur Welt außerhalb der ästhetischen Autonomie der Kunst. Er siedelt seine experimentierfreudigen Arbeiten daher bewusst in dieser ambivalenten Übergangszone an. Erscheinen sie zunächst rationalisierend, systematisierend und objektiv, sind sie gleichwohl nie frei von äußerster Subjektivität.
Selbst Gegenwelten haben Bezugspunkte, wenn sie in lustvoll verrätselnder Weise die rationalen Bezugsachsen dessen, was wir Wirklichkeit nennen, unterminieren. Das erweist der Blick auf Volker Sauls Umgang im und mit dem Raum. Die auf Planen applizierten Formulierungen geben dem drapierten Tableau einen reliefartigen Charakter und entfalten sich zu einem objekthaften Bild, das in den Raum ausstrahlt. Reich und komplex kommunizieren die so gefügten Farbgestalten untereinander und kommen gleichsam dem Betrachter entgegen. Bildform und Präsentationsrahmen, Fläche und Raum gehören unlösbar zusammen. Die Vielfalt, die keiner festen Ordnung folgt, deren Konstruktion aber nachvollziehbar und ablesbar bleibt, verleiht den Gebilden Schönheit und Leichtigkeit. Sie laden zu einer visuellen Reflexion ein und überwältigen zugleich in ihrer lakonischen Unmittelbarkeit. Beispielhaft stehen diese Arbeiten für den spielerischern und mit Humor versehenen Umgang des Künstlers mit den Parametern der ungegenständlichen, nichtrepräsentierenden Kunst. Sie können als Überprüfung der Einsatzgebiete von Formen, Farben, Linien, Licht, Raum und Material angesehen werden. Saul analysiert in seinen Arbeiten auf sehr differenzierte Weise vornehmlich gemischte Zustände, Gefüge und Verkettungen – nicht die Abstraktion als solche, als abgehobenes Ganzes. Damit erhebt sich die Forderung, dass das Auge nicht bei den Dingen verharrt, sondern sich darüber hinaus des Sehsinns bewusst wird und sich zu den Sichtbarkeiten erhebt. Saul richtet sein Hauptaugenmerk auf das Entstehen visueller Zustände, was dem prozesshaften Nachvollzug einen hohen Stellenwert beimisst. So intensiv seine Arbeiten ästhetisch kommunizieren wollen, so intensiv weigern sie sich, das wie und was dem Adressaten vorzuschreiben. Das Bild ist schließlich von dieser Welt. Wir befinden uns mit ihm im selben Raum, wo es von der stummen Präsenz des serialisierten Materials, der Form und der Farbe zeugt. Die abstrakte Kunst ist schließlich selber eine Tradition unter anderen. Das Hantieren mit ungegenständlichen Formen ist zu einem ästhetischen Modell innerhalb vieler Modelle geworden.
Für Volker Saul stellt der jeweilige Ort der Ausstellung immer wieder aufs Neue eine zu bespielende Bühne dar. Die Wände, Decken und Böden bilden die Kulisse, die nur begrenzt als Begrenzung akzeptiert wird. Sauls Arabesken und Grotesken lassen uns die starren Wände als belebte und pulsierende Projektionsflächen erfahren. Als Spielarten des Merkwürdigen, als subversive Parasiten im vermeintlich geordneten System der Mimesis können seine Raumbesetzungen gelesen werden, die bis hin zur zeichnerischen Transformation von Wirklichkeiten eigener Ordnung reichen. Die Linie ist dabei nicht einfach ein optisches Faktum. Sie wird zur ersten beweglichen Tat. Sie teilt und verbindet, umgrenzt und ordnet, spannt auf und entwirft. Die disparaten Forminhalte – das Amorphe, die chaotische Wucherung, das gerichtet Lineare – bewahren jene Dialektik in sich auf, die verhindert, uns in die eine Wirklichkeit zu verbannen.
Die sinnlichen Aspekte werfen Fragen nach unserer Wahrnehmung sowie nach dem Verständnis des Körpers auf. Auch lassen sich mithilfe des planen künstlerischen Mediums Wünsche und Visionen in anschauliche, glücksversprechende oder angstbesetzte Bilder überführen. Das rationale Denken nimmt dabei seine eigene Ereignishaftigkeit in seine Reflexion mit auf. Der Weltbegriff des zeichnenden Denkens stößt auf einen Prozess von Prozessen, in denen eine Welt ge- und verdichtet, erfahren, erkämpft, ertragen, vereinbart, vollzogen und gedacht wird. Die wuchernden Formfindungen von Volker Saul können wir daher auch als Szenographien bezeichnen. Diese Darstellungsform ermöglicht nämlich auch ein Sehen auf und um die Ecken, in jedem Fall ein mehrdimensionales Sehen. Ein Bild ist etwas, das gemalt wird, um zur Verfügung zu stehen, es ist eine Option auf Gebrauch.